ERNESTO PERREN
Bergschriftsteller, Bergbuchautor, Zermatt-Autor, Essayist und Lyriker
Autor des neuen Wanderführers Zermatt, Matterhorngedicht
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  • Otto Supersaxo : Schlussakkord in Dur und Moll

    Die Welt ist Musik, alles Geschaffene ein Zusammenklang, ein hin und her flackernder Liebesakkord zweier gegensätzlicher Kräfte, die – einer dritten entflossen – in neue Form drängen. Dieses polare Kräftepaar tritt uns überall wie z. B. in der Musik, als Form und Gehalt, als Rhythmus und Melodie, als Dur– und Mollton entgegen.

    Im Saastal haben sich beide konträre Kräfte einträchtig verschworen, Titanisches und Idyllisches zu versöhnen. Denn Helles und Dunkles, Dur und Moll haben sich hier wie ein glückliches Liebespaar zur ausgewogenen Symphonie der Schönheit gefunden und erzeugen die betörende Spannung, die wie ein Zauber über dem Tale schwebt.

    Saas-Fee zu Füssen silberner Gletscher auf einer sonnenbeschienen Terrasse lieblich gebettet, umrundet von einem Kranz himmelbedrängender Berge: trutzig aufbegehrende, schroffe Felszinnen, die gleichsam das eherne Gesetz der Erde verkörpern und versöhnlich gleissende, Eis übergossene Kuppen. Diese variationsreiche Ausgewogenheit verleiht der abgehobenen Berglandschaft etwas Besonderes, raubt als formgeronnene Musik jedem erstmaligen Beschauer den Atem. Gerade das mag Carl Zuckmayer seinerzeit bewogen haben, dieses Paradies zu seiner endgültigen Bleibe zu erküren.

    Otto Supersaxo greift es auf: Dur– und Molltöne durchwirken das «Mekka der Bergsteiger» seit seiner Entstehung: Silberne Gletscher und dunkler Fels; steinerne Hotelpaläste und warme, hölzerne Chalets. Dur und Moll, alemannische Strenge und lateinischer Liebreiz prägten und modulierten auch seine Bevölkerungsmelodie, die, wie in Zuckmayers «wandelnde Stadel» skizziert, aus Nord und Süd zusammengewachsen ist. In dieser gegensätzlichen Paarung verbergen sich der pittoreske Liebreiz, das Eigentliche und das Geheimnisvolle des schmucken Bergdorfes.

    Und auch Otto Supersaxo ist «hüben und drüben», ist in Dur und Moll gleichermassen Zuhause: Er hat in beiden Sparten, sei's als Offizier oder als Pädagoge, die höchstmöglichen Sprossen erklommen immer wieder durch seine Vielseitigkeit verblüfft. Er amtete als Schulinspektor und als Präsident der Oberwalliser Geschichtskommission, avancierte zum ersten Oberwalliser Brigadegeneral und – schwang den Taktstock als Chordirigent. Kurzum, ein Mann, der stets sein eigenes Lied sang und überall (sei’s im Beruf, in der Politik, im Militär, in der Kultur) das Beste vollbrachte und dennoch oder gerade darum – es reicht an die Quadratur des Kreises – überall geschätzt, bewundert und geliebt wird.

    Hinter seinem Erfolg verbirgt sich ein unermüdlicher Arbeitseifer, (wohl derselbe, der seinem Bruder Alfons vierzehn Schweizermeistertitel einbrachte). Es soll ja niemand behaupten, Dur und Moll liessen sich ganz ohne Anstrengung versöhnen. Die pulsierenden Kräfte zwischen beiden extremen Polen erzeugen einen Spannungsbogen, der schon manchen zu Fall gebracht hat, den aber ein Meister vom Schlage Supersaxos durch eiserne Selbstdisziplin und Liebe in schöpferische Kraft umzuwandeln versteht. Denn ohne die stille Liebe seiner Frau Rosa hätte er diese Leistung nie vollbracht. Das ist die Alchimie des Lebens, welche den einzig richtigen Schlüssel zum wahren Erfolg schenkt. Hierin spiegelt sich seine Reife und seine Ausgewogenheit. In dieser Souveränität liegt wohl der Grund verborgen, dass Supersaxo nicht nur über Heeresteile, sondern ebenso gekonnt über einige Musen gebietet. Daher musste er seinen Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie zwangsläufig finden. Das allerdings berührt ihn wenig, denn in den Herzen seiner Mitbürger ist er ihm gewiss.

    Die «Melodie der Dinge», diese meisterhaft strukturierte Komposition verrät den grossen «Strategen», aber auch den einfühlsamen Poeten, der den Takt verflossener Zeiten, die Nuancen zwischen Hell und Dunkel gleichermassen erspürt und plastisch und spannend wiedergibt. Diese «Saaser Rhapsodie» weist auf ihren Schöpfer und entschleiert seine herzliche Vertrautheit mit seiner Heimat, denn was der goldenen Feder von Otto Supersaxo entfliesst, ist lautere Liebe zu seiner Talschaft. «Feldherren» haben ja oft und gerne geschrieben; meine Gedanken entgleiten zu Xenophons Anabasis und zu Caesars Gallischen Krieg. Otto Supersaxo befindet sich also in bester Gesellschaft, doch bei ihm verstummt das Martialische, schimmert eine abgeklärte Menschlichkeit und Lebensnähe durch und – was immer wieder überrascht – eine rührende wundersame, naturnahe Poesie. Hierin liegt letztlich wohl das Arkanum seines erfüllten Lebens.
  • Die zerbrochene Christbaumkugel

    «Ja nicht fallen lassen!» Annina umklammert die Schachtel und presst sie fest an sich, als sie stolpert und die steile Böschung hinunter schlittert.

    Der schmale Pfad dem abschüssigen Hang entlang zum Holzsteg, der sich über das Bachtobel spannt, ist zur Winterzeit recht gefährlich. Tatsächlich ist er Annina nur vom Sommer her vertraut. Doch sie schlug diese Abkürzung heute ein, um ihrem Gespänlein Sona so schnell wie möglich die schmucke Christbaumkugel zu überbringen und − um bald wieder bei ihrer Mutter daheim zu sein.

    Sona war die Tochter der armenisch stämmigen Familie Soroyan. Wie die meisten Angehörigen ihres Volkes waren ihre Vorfahren nach dem Ersten Weltkrieg aus der Türkei geflohen und nun musste sich die christliche Familie in Syrien vor dem Wüten der IS wiederum in Sicherheit bringen. Nach einer abenteuerlichen Reise durch den Balkan erhielt sie Asyl in der Schweiz und bekam von der Gemeinde Hirschberg das verlassene Försterhäuschen auf Rehtobel zugewiesen.

    Ein Fussbreit vor dem senkrecht werdenden Abgrund bleibt Annina an einem Haselnussstrauch hängen, die Schachtel mit der Weihnachtskugel aber kullert in die Tiefe. Schreckerfüllt wird ihr klar, dass sie ohne Hilfe unmöglich wieder hoch steigen kann, und dass − für sie im Augenblick fast noch schlimmer − das Geschenk für Sona zerbrochen im Tobel liegt.

    Noch vor einer Stunde sass Annina allein zu Hause, als eine Hausiererin den von ihrer Mutter bestellten, im Dorfladen nicht erhältlichen Weihnachtsschmuck brachte und ihr die schöne rote Kugel schenkte. Sie gefiel Annina ausserordentlich, doch sie entsann sich sogleich ihrer syrisch armenischen Freundin, die von den meisten im Dorfe gemieden, mit ihren Eltern im entlegenen Rehtobel einer freudlosen Weihnachtszeit entgegen sah. «Ich will sie ihr gleich bringen, bestimmt wird sie sich darüber freuen!»

    Als sie ihre Tochter nicht zu Hause vorfindet, macht sich Anninas Mutter Helene Sorgen. «Es ist doch gar nicht Anninas Art, einfach wegzulaufen. Ach ja, es ist Weihnachten, zweifellos hat sie zum gemeinsamen Basteln eine Mitschülerin besucht!» Doch nach einer halben Stunde beschleicht sie Unruhe. Sie beginnt all ihren Bekannten anzurufen. Allein an diesem trüben Winterabend will niemand Annina gesehen haben. Helene beschliesst, noch eine Weile zuzuwarten und dann den Dorfpolizisten zu verständigen.

    Frau Soroyan versuchte ihren hinausgehenden Mann zurückzuhalten: «Warum musst Du jetzt noch ins Dorf hinunter? Es wird ja schon dunkel! Wenigstens an Weihnachten könntest Du aufs Rauchen verzichten! Es ist so ungesund und kostet viel Geld, mit dem wir Sona ein Weihnachtsgeschenk kaufen könnten.» «Ich verzichte doch schon fast auf alles, lass mich doch wenigstens an Weihnachten eine Zigarette rauchen. Ich nehme die Abkürzung und bin in einer halben Stunde wieder bei euch.»

    Inzwischen hat Helene Alarm geschlagen. Gross und Klein beginnen Annina überall, nur nicht auf dem Fussweg nach Rehtobel, zu suchen.

    Mit zügigen Schritten läuft Sonas Vater nach Hirschberg hinunter. Wie er sich dem Steg nähert, vernimmt er schwache Hilfeschreie. «Das ist ja eine Kinderstimme», denkt er sich. Tatsächlich erspäht er in zehn Metern Tiefe, nur durch einen Strauch vom weiteren Abgleiten bewahrt, die verängstigte Freundin seiner Tochter. Vorsichtig klettert er zu ihr hinab, fasst ihre klammen Hände und bringt sie sicher nach oben: «Was um Himmels Willen treibst Du um diese Zeit hier!» «Ich wollte Sona ein Weihnachtsgeschenk bringen. Nun liegt es zerborsten in der Schlucht.» Gerührt versucht Aharon sie zu trösten und strebt mit ihr schleunigst dem Dorfe zu. Obwohl gerade sein Gang nach Zigaretten, Annina vor Schlimmerem bewahrt hat, nimmt sich Aharon vor, statt Glühstängel für sich Farbstifte für Sona zu kaufen.

    Auf dem Kirchplatz stehen viele Dorfbewohner in Grüppchen plaudernd herum. Natürlich kennen sie nur ein Thema. Sie sind heilfroh, aber höchst erstaunt, als Aharon mit Annina unerwartet aufkreuzt. Schon beginnen ihn einige zu verdächtigen. Beherzt und lauthals verkündet Annina jedoch: «Aharon hat mir das Leben gerettet. Ohne ihn wäre ich im Tobel erfroren!» Dann erzählt sie den gespannt Lauschenden ihr heutiges Erlebnis mit der Christbaumkugel.

    In einer Ecke des Dorfplatzes bietet ein Bauer die letzten Weihnachtsbäumchen feil. Spontan ergreift er das Schönste und reicht es Aharon: «Frohe Weihnachten im Försterhaus!» Die Herumstehenden klatschen begeistert. Doch der herbei eilende Schullehrer ruft dazwischen: «Wartet mit dem Bäumchen! Anninas Christbaumkugel liegt zerbrochen im Tobel, doch es findet sich hier im Dorf sicherlich noch Manches, womit sich dieses Tännchen herausputzen und Sona und ihre Familie schenken lässt. Bringt all dies bitte morgen in die Schule. Die Kinder werden das Bäumchen schmücken und es nachmittags auf der sicheren Forstrasse nach Rehtobel bringen.»
  • Venedig

    Hier dämmert Zeit,
    Gefangen
    Von Wasserewigkeit,
    Die - zeitlos weiblich -
    Verwelkendes dem Tod verwehrt.

    Dem Meere männlich abgetrotzt,
    Dem Meere, das dich stets bedroht;
    Dem du vermählt -
    Das todgeweiht Schönheit spiegelt.

    Dein Lied
    - Des morschen Abendlandes
    Schwanengesang -
    Verhallt im Gassenlabyrinth,
    In der betört ein müder Tritt
    Fortwährend sich verirrt:
    Entrinnen gibt's hier nicht!
    Nur Tod!
  • Zinalrothorn

    Glühend dein Fels,
    Und glühend rot
    Verleitest Kühnheit in die Höhe,
    Am Himmelsrande zu verweilen.
  • Matterhorn
    M ächtig prangst Du, Form der Formen,
    A rchetypus, bergvollendet,
    T ranszendenz von allen Normen,
    T raumberg, Deine Schönheit blendet!
    E rdenschwere überwindend
    R agst hinein in höchste Sphären,
    H immelslicht mit Fels verbindend,
    O ben erst Dich zu erklären:
    R eines Herz erfasst im Spiel,
    N ur im Weg liegt unser Ziel!
  • Allalin

    Geheimnis aus dem Morgenland,
    Von Sarazenen hergebracht
    Aus tausend und aus einer Nacht,
    Als Sphinx im Eise Zuflucht fand.

    Orpheus' verschmähte Leierkraft
    Entsiegelt' wohl das Zauberwort;
    Noch schläfst in leiser Ahnung fort,
    Verhüllt in Wolken schleierhaft.

    Ein Schatten fremd und ahnungszart,
    Verzaubert Berge, Licht und Schnee;
    Fallt auf das Dorf der Gletscher-Fee,
    Die dieses Rätsel streng bewahrt.
  • Aus Essays
    Plötzlich und ungeladen war sie da - die Krise, berührte jeden irgendwie, brachte den Boden unter den Füßen ins Wanken und ließ ein Gefühl des Unbehaustseins zurück.
    Zwar hatte sie sich leise schon früher angekündigt: Ein Hauch "Unbehagen in der Kultur" regte sich sacht'; er ließ sich bequem verscheuchen. Der Alltag, einer überlegenen, westlichen Lebensform, hatte uns wieder; eine Kultur, die sich gerade anschickte, die Welt in einen - uns konformen Raster zu pressen und ihr ein aus abendländischen Werten gewobenes - Gewand zu verpassen; das einzig kleidsame, wie wir uns vermaßen.
    * * * * *
    Grenzen trennen, schirmen ab, bergen politischen Zündstoff; öffnen, verlocken und versöhnen. Aber Grenzen zwischen Ländern, Regionen und Kulturen sind niemals hermetische Trennlinien, sie greifen - zur Freude mancher, zum Leidwesen anderer - in einander über; sind durchlässig.
    Diese Durchlässigkeit befruchtet, regt durch bespiegelndes Vergleichen zur Reflexion an, verinnerlicht, vertieft und artikuliert die eigene kulturelle Identität. Das wäre an und für sich höchst wertvoll für die Entfaltung des Menschengeschlechts. Doch die Geschichte und der Alltag zeigen: An Grenzen scheiden sich die Geister: Die Berührung mit anderen Kulturen äussert sich polar in zwei grundverschiedenen Denk- und Verhaltensmustern. Je nach der inneren Reife, welche ein souveränes Selbstbewusstsein voraussetzt, in wohlwollender Bejahung des Andersseins; in Toleranz, oder in enger, ängstlicher Abschottung. Freilich müssen wir einräumen, dass eine gewisse Abgrenzung ein Teil der Wegstrecke zu einer persönlichen Selbstfindung säumt. Nur die, welche sich in voller Selbstsicherheit wiegen, bedürfen ihrer nicht mehr. Grenzbegegnung führt also entweder zur inneren Bereicherung, zur kulturellen Vielfalt oder zum formenverhafteten Fundamentalismus und - im Extremfall zum Kriege.
  • Jahresreigen

    Der Frühling, Orpheus Urgesang,
    Weckt – schlafgefangen – Morgenklang,
    Der ungestüm sich Bahnen bricht
    Vom Erdendunkel hin zum Licht.

    Zur Sommerfülle reift die Kraft,
    Die Sonnenglut zusammen rafft
    Und kulminiert zur Mittagszeit
    In gleissend heitrer Helligkeit.

    Der Herbst entquillt des Sommers Glut,
    Verklärt verträumten Übermut,
    Der kühl, vom Abendwind umfaucht,
    Im Welken Lebenslust verhaucht.

    Der Winter wiegt – gefühllos klamm –
    In Schlaf den matten Lebensstamm.
    Kultur zur spröden Form getürmt,
    Zerbricht wie Packeis,wenn es stürmt.

    So rundet sich, erstarrt in Eis,
    Wie er begann, ein Jahreskreis,
    Bevor erneut aus Winternacht
    Voll Kraft zum Leben er erwacht.
  • Weihnachtslicht

    Die Welt erstrahlt heut' voller Licht,
    Die Nacht sie tut sich schwer,
    Das ist das Licht von Weihnacht nicht;
    Es rührt von Luzifer.

    Denn blendet auch sein eitler Glanz,
    Er ist bloss Widerschein,
    Vom Dunkel, das im Funkentanz
    Vorgaukelt, «Licht» zu sein!

    Es stört doch, was so grell geputzt,
    Die Nacht zum Tagt erhellt
    Und Weihnachten mit Licht verschmutzt,
    Die Harmonie der Welt!

    Denn wahres Licht glänzt stets nur schwach,
    Gleichsam ein scheuer Stern,
    Für Menschen deren Sinnen wach:
    So nah, und doch so fern!
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